Leben in Anatolien

Kangals sind seit Jahrhunderten auf Nutztiereigenschaften selektiert worden. Familienhunde, die bei uns den überwiegenden Anteil der Caniden – Population stellen, waren in den Dörfern Anatoliens ebenso unbekannt wie in anderen alten Hirtenkulturen. Hunde hatten eine Aufgabe zu erfüllen und das möglichst effektiv. Um dies zu können, wurden sie für genau diesen Zweck über einen langen Zeitraum optimiert. Das machte die Hunde zu ausgesprochenen Spezialisten, denen das Schützen und Verteidigen ihrer Herden in Fleisch und Blut übergegangen ist. Das ist ihre Profession und da macht ihnen keine andere Rasse etwas vor. Dafür lassen sie andere Eigenschaften vermissen, welche in unserem Umfeld schon recht nützlich sind. Dazu mehr im nächsten Kapitel.

Kein Herdenschutzhund muß in der Türkei in irgendeiner Art ausgebildet werden. Die Tiere kennen weder „Fuß“ noch „Platz“, Leinen sehen sie auch eher selten. Die Arbeit an der Herde benötigt minimale Anleitung durch die Hirten, die Hunde lernen voneinander, da oft mehrere Generationen gemeinsam ihren Job erledigen. Die Schutzhunde agieren im Verbund, in der Regel sind 5 – 8 Hunde an einer Herde, erfahrene Kangals führen die weniger Erfahrenen oder Neulinge .  Dies führt dazu, daß  Abwehrstrategien gegen Raubtiere, Einschätzen von Gefahren und die Reaktion darauf in erster Linie eine Entscheidung der Hunde ist, die sie auch sehr instinktsicher treffen. Kangals sind sehr effektive Herdenschützer und wenn es sein muß, gehen sie kompromisslos gegen die tierischen Angreifer vor. Reicht die Abschreckung durch Präsenz und Drohverhalten nicht aus, werden auch direkte Auseinandersetzungen mit Wölfen nicht gescheut.

Arbeitshunde in Anatolien

Der Herdenschutz ist die eine Seite im traditionellen Leben der Hunde, die andere ist das Zusammenleben mit den Dorfbewohnern, ihren diversen Nutztieren, anderen Kangals. Es ist keineswegs so, daß sich die Hunde nur an den Herden befinden und sonst kaum Kontakt zu Menschen besteht, die Hunde leben nach getaner Arbeit im Dorf, bewegen sich zumeist völlig frei, teilweise in Rudelstrukturen.

Man kann in vielen westlichen Publikationen über HSH oft lesen, daß es nur eine Bezugsperson für den Hund geben sollte, nämlich den Hirten. Alle darüber hinausgehenden Kontakte oder Zutraulichkeiten zu anderen Menschen werden als hinderlich bezeichnet.  Dementsprechend werden die Welpen in der Prägephase zu den späteren Nutztieren gebracht, wachsen mit ihnen auf, werden gemeinsam gefüttert und auch der Kontakt des Hirten ist eher beschränkter Natur. Der so beschriebene „klassische“ Herdenschutzhund wird auf Schafe und Ziegen geprägt, Hunde beginnen, mit den Nutztieren auf „hündisch“ zu kommunizieren, dies geht sogar bis zum Lefzenlecken und dem typischen Demutsverhalten von Hunden gegenüber Schafen und Ziegen. Fremde Menschen werden eher scheu oder vorsichtig betrachtet. Man warnt zu Recht davor, Hunde aus solchen Arbeits - Linien in eine Haltung als „Pet“ zu vermitteln. Was in der Prägephase passierte bzw. nicht passierte, läßt sich auch nicht durch noch so gute Sozialisierung oder Erziehung nachholen oder ausbügeln.

Besucht man ein anatolisches Dorf ist alles ganz anders. Hunde streunen ohne jede Aufsicht und unter Respektieren unsichtbarer Rudelgrenzen durch den Ort. Kangals sind Spielgefährten und Vertraute der Kinder, selbst als Fremder wird man nicht angeknurrt werden oder gar attackiert, wie man das von einem Schutzhund eigentlich erwarten würde. Die Hunde lernen von klein auf die Menschen und Nutztiere des Dorfes kennen, das Prägen verläuft nebenbei und umfasst keineswegs nur Schafe oder Ziegen. In den Herden findet keine weitere Kommunikation zwischen den Schafen und den Hunden statt, auf Demutsgesten seitens der Hunde gegenüber den Herdentieren wird man lange warten können. Sozialpartner für die Kangals sind die Menschen, in erster Linie die Hirten, welche anatolische Herden stets begleiten.

Warum das so ist und wer nun Recht hat, wenn er über das Prägen und Sozialisieren von HSH - Welpen schreibt, darüber später mehr.

Dorfhunde in der Sivas-Region

Zweibeinige Feinde der Herden gibt es nicht, Diebstahl ist ein Fremdwort und es besteht keine Notwendigkeit, irgendwelche Aggressionen gegen Menschen auszubilden. Diese werden auch nicht ansatzweise toleriert und sollte sich ein Kangal auffällig gegenüber Menschen verhalten, wird er das genau einmal tun. Diese über Jahrhunderte so praktizierte Selektion führte zu überaus menschenfreundlichen Hunden, welche aber um so kompromißloser agieren, wenn es um vierbeinige Eindringlinge in das Territorium geht.